Stellungnahme von Erzbischof Dr. Stefan Heße zur Studie „Aufarbeitung und Dokumentation des sexuellen Missbrauchs von katholischen Priestern und anderen im Dienst der katholischen Kirche stehenden Personen an Minderjährigen in Mecklenburg von 1946 bis 1989" der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Ulm
Hamburg, 27. Februar 2023
Sehr geehrte Damen und Herren,
die meisten von Ihnen werden die ausführliche und bedrückende Präsentation der Studie über sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche in Mecklenburg am vergangenen Freitag verfolgt oder inzwischen Teile der veröffentlichten Studie gelesen haben.
Ich habe am Freitag gesagt, wie schrecklich und schockierend es ist, von solch schlimmen Erfahrungen zu hören, die Menschen als ganz junge Kinder und oft über einen sehr langen Zeitraum erlitten haben durch Priester, denen sie anvertraut waren. Ich kann den betroffenen Menschen nur dafür danken, dass sie an dieser Studie mitgearbeitet und von ihren Erfahrungen berichtet haben. Und ich kann nur ahnen, was es für sie bedeutet hat.
Es ist ein Verdienst der Studie, aus dem kriminologischen, psychologischen und psychiatrischen Blickwinkel der Forschenden deutlich gemacht zu haben, welch vielfältige Formen und Folgen sexuelle Gewalt hat, die Kinder und Jugendliche erleiden. Mir ist auch deutlich geworden, wie sehr sexualisierte Gewalt mit geistlichem Missbrauch, mit Machtmissbrauch und mit brutaler körperlicher Gewalt zusammenhängt.
Die Studie hat einen Teil des Missbrauchs in der katholischen Kirche Mecklenburgs dokumentiert und öffentlich gemacht. Sie wird damit zu einem Teil des Schuldgedächtnisses unserer Kirche. Ich finde das gut und wichtig.
Auch wir im Erzbistum Hamburg müssen zur Kenntnis nehmen, dass kirchliche Verantwortungsträger nach unserem heutigen Wissen nicht angemessen gehandelt haben. Täter wurden nicht konsequent zur Rechenschaft gezogen und Schutzbefohlene nicht ausreichend geschützt.
Viele betroffene Menschen äußern inzwischen ihren Unmut über kirchliche Entschuldigungsgesten. Das kann ich gut verstehen. Es wäre viel zu wenig, nur um Entschuldigung zu bitten. Und ist es nicht für die Betroffenen geradezu eine Zumutung, ausgerechnet sie um Entschuldigung zu bitten? Es geht aus meiner Sicht vielmehr darum, die richtigen Konsequenzen zu ziehen und alles dafür zu tun, damit niemand solche Erfahrungen in der Kirche machen muss.
Die Studie hat deutlich gemacht, wie sehr die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR den Machtmissbrauch durch Priester erleichtert haben. Auch wenn wir heute Kirche in einer offenen und demokratischen Gesellschaft sind, muss der Umgang mit Macht in der Kirche nach wie vor immer reflektiert und kritisch überprüft werden. Wir tun dies bundesweit auf dem Synodalen Weg, und ich glaube, dass wir dort an wichtigen Impulsen für eine Kirche arbeiten, in der Macht geteilt und kontrolliert werden soll.
Wir werden als Erzbistum Hamburg in Abstimmung mit der Aufarbeitungskommission und dem Betroffenenrat weitere Untersuchungen in Auftrag geben, die das ganze Gebiet des heutigen Erzbistums und die gesamte Zeit bis heute in den Blick nehmen. Inwieweit diese Untersuchungen wichtige neue Erkenntnisse bringen werden, fragen sich heute schon viele. Auftrag der Aufarbeitungskommission ist es deshalb, die wissenschaftlichen Kriterien zu generieren, die einen Erkenntnisgewinn ermöglichen.
Im Gespräch mit den Forschenden aus Ulm habe ich zudem den Eindruck gewonnen, dass es eine gesamtdeutsche Studie braucht. Voraussetzung dafür sind aber gemeinsame Kriterien, auf die man sich festlegen müsste. Und wichtiger müsste die kleinteiligere Aufarbeitung in den einzelnen Gemeinden, vielleicht auch einzelnen Institutionen genommen werden.
Bereits seit 2010 hat es Gesprächsveranstaltungen in verschiedenen Gemeinden mit Fachleuten aus dem Erzbistum gegeben. Auch in der Zeit, als die Studie erarbeitet worden ist, hat es weitere solcher Gespräche gegeben. Und auch jetzt, nach Veröffentlichung der Mecklenburg-Studie, wird es begleitete Gesprächsangebote in den Mecklenburger Gemeinden geben. Einige Termine sind schon vereinbart. Und weiter gedacht wird es diese Art der Aufarbeitung auch in unseren Gemeinden in den Regionen Hamburg und Schleswig-Holstein geben müssen. Die Studie spricht von gespaltenen Gemeinden. Ich hoffe, dass wir durch solche Gesprächsprozesse auch dazu beitragen können, Verwundungen zu überwinden.
Missbrauchstäter in unseren Gemeinden werden oft von Teilen der Gemeinde als charismatische Personen beschrieben, die viel Gutes getan hätten. Die Ulmer Forschenden haben dies als Anbahnungsverhalten gesehen, das sogenannte Grooming, also als ein Verhalten, das Machtmissbrauch und Gewalt vorbereitet und ermöglicht.
Wir müssen davon ausgehen: Ein solches Anbahnungsverhalten gibt es auch heute. Durch unsere Präventionsarbeit ist nach meinem Eindruck die Sprechfähigkeit und die Sensibilität, solches Verhalten zu erkennen, gewachsen. Wir haben es für unsere Gemeinden und Einrichtungen verpflichtend gemacht, Schutzkonzepte zu entwickeln, die auf ihre Situation zugeschnitten sind und die dabei helfen, sichere Orte für Kinder und Jugendliche und erwachsene Schutzbefohlene zu schaffen. Diese Konzepte müssen nun vor Ort weiter umgesetzt werden, und wir werden das personell unterstützen.
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, hat in einer ersten Stellungnahme am Freitag gesagt, die Studie mache klar, dass die Aufarbeitung sexueller Gewalt auch von staatlicher Seite gestärkt werden müsse. Ich begrüße das ausdrücklich. Ich frage mich allerdings auch, wann es hier einmal zu konkreten Ansätzen kommen wird. Wenn die kirchliche Aufarbeitung in der Öffentlichkeit als nicht ausreichend angesehen wird, müssen solche konkreten Ansätze dringend in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden.
Die Studie ist zu dem Ergebnis gekommen, dass trotz der herausfordernden Situation der katholischen Kirche in der DDR die Hauptverantwortung für den sexuellen Missbrauch in der Kirche bei der Kirche liegt. Dieses Fazit akzeptiere ich und wir alle müssen das als Kirche akzeptieren. Ich sehe es als meinen Auftrag an, als Bischof weiter dafür zu sorgen, dass sexualisierte Gewalt aufgearbeitet und unsere Kirche ein immer sichererer Ort für alle Menschen wird.
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Das Erzbistum hat eine Hotline für Betroffene eingerichtet. Die Beraterinnen und Berater sind vom 24. Februar bis 3. März von 10 bis 19 Uhr unter der Telefonnummer 0385-4897070 zu erreichen.